Die Arbeit an "Heimat" wie auch die an "Nation" hatte immer schon Konjunktur, wenn das Vertrauen auf Selbstverständlichkeiten erodiert. Mit den einschneidenden Krisen der Gegenwart wird diese Arbeit wie auch ihre kritische Reflexion dringlicher - und zugleich immer utopischer. Die konstruktiven und die kritischen Potentiale von Kunst, Kultur und ihrer Vermittlung sind politisch neu gefordert.
Mehr als ein halbes Jahrhundert lang wurde in deutschsprachigen Ländern die Arbeit an ‚Heimat‘ mal sentimental gepflegt, mal kommerzialisiert, mal – auch und gerade im Bezug auf verschiedene Nationalismen – ideologisch instrumentalisiert, mal als naive Weltflucht ironisiert, mal als reaktionäre Ideologie bekämpft. Wo sie nicht ausdrücklich Thema war, blieb sie dabei im Sinne Hartmut Rosas dennoch stets als eine persönliche Lebensaufgabe des modernen Lebens jeder und jedem Einzelnen auferlegt – an der man allerdings letztlich nur leiden und mehr oder weniger heroisch scheitern kann.
Die Arbeit an ‚Heimat‘ wie auch die an ‚Nation‘ hatte immer schon dann Konjunktur, wenn die Einzelnen im Verhältnis zu ihrer Umgebung nicht mehr auf Selbstverständlichkeiten vertrauen konnten. Gerade um die eigene Verunsicherung in einer unvertraut werdenden Welt zu kompensieren, wird in der Rede von ‚Heimat‘ und ‚Nation‘ die Erfahrung eines vertrauten Nahbereichs – des ‚Heims‘ und der ‚Familie‘ – als Illusion und Forderung zunächst auf die nähere Umgebung, dann auf eine als ‚Nationalgemeinschaft‘ interpretierte Gesellschaft und womöglich schließlich in der Figur des Weltbürgers auf die gesamte Welt projiziert. Mit der aktuell in das Innerste des persönlichen Lebensbereichs der Meisten einschneidenden krisenhaft zugespitzten Folgen von Globalisierung, Klimakrise, Krieg (besonders, aber nicht nur in der Ukraine), Flucht, Migration, Pandemie, Energiekrise, forcierter Pauperisierung usw. …) wird diese Arbeit wie auch ihre kritische Reflexion daher gewiss immer dringlicher und zugleich immer utopischer werden.
Anknüpfen kann das Thema daran, dass die Arbeit an ‚Heimat‘ angesichts der vielbeklagten Erosion des gesellschaftlichen Zusammenhalts seit etwa einem Jahrzehnt parteiübergreifend als öffentliche Aufgabe der Gesellschaft wahrgenommen wird. Spätestens seit der Umbenennung des Innenministeriums (2018) und deren Fortschreibung in der Benennung des ‚Bundesministeriums des Innern und für Heimat‘ (2021) wird ‚Heimat‘ jenseits aller föderalen Zuständigkeiten sogar als bundesweite Regierungsaufgabe begriffen.
Mit dem Begriff und Phänomen der ‚Nation‘ geht man aus guten Gründen hierzulande weiterhin zurückhaltender um, wird diese doch aus der Perspektive des 20./21. Jahrhunderts zumeist mit der Gefahr des Nationalismus und eines entsprechenden (diskriminierenden und kriegerischen) Aggressionspotentials verbunden. Doch gerade deshalb sowie angesichts des drohenden Zerfalls globaler Institutionen, des Weiterbestehens diverser ‚Nationalkulturen‘ und des global anwachsenden Rückbezugs auf ‚Nationalökonomie‘ als ordnungs- und auf ‚Nationalstaat‘ als schutzgebender politischer Einheit muss man sich auch mit Konzepten von ‚Nation‘ neu auseinandersetzten und nach ihren Ursprüngen und Bedeutungen fragen, die weit in die Vormoderne zurückreichen. Vor dem 19. Jahrhundert, als es noch keine Nationalstaaten, sehr wohl aber Nationen gab, konnte ‚Nation‘ zugleich auch die ‚Heimat‘ für bestimmte politische oder religiös-konfessionelle Gemeinschaften bilden. Von daher stehen ‚Heimat‘ und ‚Nation‘ in einem Wechsel- und Spannungsverhältnis zueinander, das es noch näher zu betrachten gilt – auch mit Blick auf die Rolle und Funktion der Künste, Literatur und Sprache.
Dem Kunstunterricht, für den das Thema ‚Heimat‘ mal ideologiekritisch und migrationsbewusst (z.B. ZfKuPäd 2.1982), mal eigentümlich affirmativ aufbereitet wurde (K+U 431/432.2019), öffnet sich damit die neue Herausforderung, die in vielen Landesverfassungen geforderte schulische Erziehung zu „Liebe zur Heimat“ (z.B. RhPfVerf Art. 33) zeitgemäß zu aktualisieren, kritisch zu reflektieren und fachlich mit Bezug auf die neue gesellschaftliche Orientierungsnot vieler Schülerinnen und Schüler historisch verantwortungsbewusst zu konkretisieren.
So klar mit der jüngeren Entwicklung das Desiderat benannt ist, so unklar ist in der öffentlichen Diskussion allerdings noch, wie dieses gefüllt werden soll. Die kunst- und kulturhistorische Perspektive der Tagungsbeiträge bietet daher an, durch Historisierung zunächst Distanz zu gewinnen, um sich nicht in der Unübersichtlichkeit der aktuellen Problemlagen zu verlieren. Vom fünfzehnten Jahrhundert bis in aktuellste Entwicklungen wird an Werken der Kunst, Architektur und Musik aufgezeigt und diskutiert, wie die künstlerische und kulturelle Konstruktion und Simulation von ‚Heimat‘ und ‚Nation‘ immer wieder auf politisch-gesellschaftliche, religiös-konfessionelle oder kulturelle Ereignisse und Parameter reagiert hat oder – nicht erst in unserer Gegenwart – die Folgen von Modernisierung und Globalisierung zu heilen versuchen und wie dies mal offen, mal verdeckt, mal missbräuchlich, mal verantwortungsbewusst politischen Zwecken diente. Die Tagung untersucht und rekonstruiert die Arbeit an ‚Heimat‘ und ‚Nation‘ dabei gleichsam pathologisch zugleich als Krisensymptom wie als vielfältig angebotenes Heilungsmittel. So bietet sie nicht nur Stoff für einen der politischen Bildung verpflichteten Kunstunterricht, sondern Gelegenheit, die politische Aufgabe des Kunstunterrichts, sich zu Arbeit an ‚Heimat‘ und verschiedenen Konzepten von ‚Nation‘ zu verhalten oder sich an ihnen konstruktiv-kritisch zu beteiligen, und dies im fachhistorischen Zusammenhang zu reflektieren und zu begründen.
Montag, 15.05.2023 14.00-14.15 Uhr |
Begrüßung und Klärung der Erwartungen Joachim Kießling |
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14.15-14.45 Uhr |
Heimatpolitik – Kunst. Kultur. Pathologie. Einleitung ins Thema Prof. Dr. Matthias Müller |
14.45 Uhr |
Pause |
15.00-16.30 Uhr |
Heimat und Nation in der Kunst und Architektur der Dürerzeit Prof. Dr. Matthias Müller |
16.30-18.00 Uhr |
Heimat und Nation in der deutschen und italienischen Musik der Frühen Neuzeit Prof. Dr. Klaus Pietschmann |
18.00 Uhr |
Abendessen |
Dienstag, 16.05.2023 9.00-10.30 Uhr |
Heimatschutz. Konstruktionen von Heimat und Nation in der Architektur des frühen 20. Jahrhunderts Dr.-Ing. Rainer Schmitz, M.A. |
10.30 Uhr |
Pause |
11.00-12.30 Uhr |
Heimat durch Rekonstruktion? Auseinandersetzungen um die neue Altstadt in Frankfurt Dr.-Ing. Wolfgang Voigt |
12.30 Uhr |
Mittagessen |
14.00-15.30 Uhr |
Vergessene Zeitzeugen? Zum städtebaulichen und stadtpolitischen Umgang mit nachkriegsmoderner Architektur Jennifer Konrad, M.A. |
15.30-17.00 Uhr |
Alles muss der Grube weichen – Fotografien über Macht und Verlust im Rheinischen Braunkohlerevier Daniel Chatard |
18.30 Uhr |
Abendessen |
19.30-21.00 Uhr |
Filmabend |
Mittwoch, 17.05.2023 09.00-10.30 Uhr |
Heimat als Realität und als ästhetische Konstruktion. Zur filmischen Reflexion der Heimat bei Edgar Reitz (Die Zweite Heimat – Chronik einer Jugend, 1992) und Jonas Mekas (Reminiscences of a Journey to Lithuania, 1971–1972). Prof. Dr. Norbert Schmitz |
10.30-12.00 Uhr |
Auf ewig keine Heimat: „Utopie“ und „Heimat“ bei Helene Fischer und Frei.Wild Dr. Thorsten Hindrichs |
12.00-12.30 Uhr |
Plenum und Perspektivdiskussion |
12.30 Uhr |
Mittagessen und Seminarende |
Seminarleitung Prof. Dr. Ulrich Heinen |
Erwachsene |
115,- € mit Übernachtung |
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Die Unterbringung erfolgt in Doppelzimmern. |
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Der Teilnahmebeitrag wird gesplittet; 2/3 werden dem Seminar zugeordnet, 1/3 dient der institutionellen Kostendeckung |
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Das Seminar ist öffentlich zugänglich. Dieses Seminar ist unter der Nummer 23FNA00003 im Gesamtangebot des Pädagogischen Landesinstituts Rheinland-Pfalz (PL) enthalten und wird in der Fortbildungssuchmaschine des Ministeriums für Schule und Bildung in NRW angeboten und kann in NRW von den Schulen aus den Fortbildungsbudgets finanziert werden. |
Stefanie Fetzer
Seminarorganisation politische Erwachsenenbildung
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